Montag, 26. April 2021

Julie Zeh: Über Menschen (Rezension)

Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.
Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein.
Über Menschen ist der erste Roman, den ich von Juli Zeh gelesen habe. Bisher hatte ich zwar viel von der Autorin gehört, aber wirklich mit ihren Werken habe ich mich nicht befasst. Aber es gibt immer ein erstes Mal und manchmal entdeckt man echte Highlights unter den Autoren, die man sonst nicht auf dem Radar hat. Ist Über Menschen ein Highlight? Nein, obwohl ich Schwierigkeiten habe, das Buch einzuordnen.
Es ist gut geschrieben. Das hat mir gefallen. Es ist sehr glaubhaft und Bracken entspricht in gewisser Weise auch der Skurrilität, die ich gerne in Büchern lese. Und so ist Über Menschen eine gut zu lesende, glaubhafte Geschichte, welche durch seine Atmosphäre den Leser regelrecht gefangen nimmt.
Es könnte fast perfekt sein, gäbe es da ein Thema, mit dem ich meine Schwierigkeiten habe. Und das stört die brandenburgische Idylle.
Ich weiß, dass es kein Schwarz und Weiß gibt und jede Medaille zwei Seiten hat, aber der Doras Nachbar, der Dorf-Nazi geht mir dann doch etwas zu weit. Nationalsozialismus zum Kuscheln... ein schwieriges Thema und in gewisser Weise auch ein problematisches. Ich bin ein bisschen sprachlos ich weiß nicht wie ich meine Gefühle (und mein Entsetzen) ausdrücken soll.
Muss ich Mitleid mit dem Nazi haben? Muss ich den Nazi ernst nehmen? Bedeutet das, dass Nazis gar nicht so schlechte Menschen sind, wie sie immer wieder dargestellt werden? 
Mir gefällt zwar, dass Gote (der Nazi) auch eine menschliche Seite hat (natürlich), aber es ist erschreckend, dass man dadurch fast schon Sympathie für ihn entwickelt.
Ist das beabsichtigt? Ich hoffe nicht.
Und ich hoffe nicht, dass man dadurch den Blick auf die Nazis aufweicht.

Über Menschen ist ein gut geschriebenes Buch, das jedoch mit Vorsicht zu genießen ist. 

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