Am Anfang dieser seit jeher spannungsreichen Geschichte stehen im 19. Jahrhundert Künstler wie Caspar David Friedrich und Naturforscher wie Carl Gustav Carus, die die Natur verehren und verstehen wollten. Gleichzeitig setzten Ingenieure wie Johann Gottfried Tulla alles daran, mit der Rheinbegradigung die scheinbar unvollkommene Natur zu verbessern. Dass man sich vor der Natur fürchtete, zeigt die folgenreiche Auseinandersetzung mit Krankheiten wie der Cholera. In der Industrialisierung wurde die Natur rücksichtslos erobert und ausgebeutet. In Dienst genommen wurde sie aber auch, um soziale Hierarchien wie die Geschlechterordnung oder »Rassenkonzepte« zu begründen. Doch am Ende des Jahrhunderts mündete die Kritik an den Auswüchsen der Moderne in den lautstarken Appell der Lebensreform: »Zurück zur Natur!«.
Die Historikerin Birgit Aschmann bietet mit dieser großen historischen Erzählung nicht nur einen erfrischend anderen Blick auf das 19. Jahrhundert, sondern legt zugleich die Wurzeln des heutigen, oft widersprüchlichen Umgangs mit der Natur frei.
In Die Deutschen und die Natur widmet sich Birgit Aschmann der Frage, warum das Verhältnis der Deutschen zur Natur bis heute von besonders starken Emotionen, moralischen Ansprüchen und politischen Debatten geprägt ist. In einer kulturhistorischen Analyse zeigt sie, dass Natur in Deutschland weit mehr ist als nur Umwelt oder Landschaft: Sie ist Projektionsfläche für Sehnsüchte, Ängste und nationale Selbstbilder.
Aschmann zeichnet die Entwicklung dieses Naturverständnisses vom Ende des 18. Jahrhundert bis ins frühe 120. Jahrhundert nach. Besonders eindrucksvoll ist ihre Darstellung der Romantik, die man heute in den Gemälden von Caspar David Friedrich bewundern kann, die Reaktion auf Epidemien und Pandemien, die sich kaum von der Gegenwart unterscheidet. Impfgegner gab es schon immer, Verschwörungstheorethiker auch, nur die Verbreitung ihrer Meinung war anders. Aschmann zeigt, dass das 21. Jahrhundert das Rad auch nicht neu erfindet, trotz all der modernen Möglichkeiten. Sie macht deutlich, wie sich moderne Umweltbewegungen und ökologische Leitbilder entwickelt haben. Natur erscheint dabei stets ambivalent: als schützenswertes Ideal, aber auch als wirtschaftlich nutzbare Ressource. Und das Zeitalter der Industrialisierung, der beginn des Anthropozäns scheint sich fast durch die Abwesenheit von Natur zu definieren.
Die große Stärke des Buches liegt in seiner historischen Tiefe und der klaren Argumentation. Allerdings ist der Stil stellenweise doch sehr wissenschaftlich und eher für ein akademisch interessiertes Publikum geeignet.
Insgesamt bietet Aschmann eine fundierte, differenzierte und hochaktuelle Deutung der deutschen Umweltkultur. Das Buch hilft, gegenwärtige ökologische Debatten besser zu verstehen – nicht nur politisch, sondern auch kulturell und mentalitätsgeschichtlich.
Wer eine verklärte Sicht auf die Natur erwartet, wird eines besseren belehrt und bekommt Einblicke in die Vergangenheit, die zum einen für einige Umweltsünden (man denke z. B. am die Begradigung des Rheins) verantwortlich ist, aber auch den Weg für das moderne Naturverständnis ebnete.
Allerdings hatte das Gefühl, dass die Natur streckenweise doch etwas zu wenig behandelt wurde, oder mein Bewusstsein von Natur ein anderes ist. Denn auch wenn die medizinischen Abhandlungen über Cholera, Pocken und Verwandte interessant ist (um ein Beispiel zu nennen) ... in einem Buch über die Deutschen und ihrer Natur hätte ich das nicht erwartet.
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